Rezension 457
„Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann
Worum geht es?

„Am letzten Tag der Abiturprüfungen im Jahr 2002 fallen Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Unser Erzähler erlebt diesen Tag als Elfjähriger, wird mit seinen Mitschülern evakuiert und registriert in den folgenden Wochen die Hilflosigkeit der Erwachsenen im Angesicht dieser Tat. Mehr als zwanzig Jahre später bricht das Ereignis völlig unerwartet erneut in sein Leben ein und löst eine obsessive Beschäftigung mit dem Sujet aus, die in ein Romanprojekt resultieren soll. Aber warum nach so vielen Jahren alte Wunden aufreißen? Hat er ein Recht dazu? Wie verhält es sich mit seinen Erinnerungen, welche Geschichten hat er so häufig erzählt, dass sie wahr wurden?“
( Quelle Ullstein.de )
Meine Meinung:
Ich kann mich noch gut an die Nachrichten von damals erinnern. Rainer Heise, ein Lehrer Steinhäusers, war ja auch in allen TV-Formaten zu sehen, wie er das letzte Gespräch mit Robert führte, bevor es ihm gelang, diesen in einen Raum einzuschließen. Ob er noch weitere Menschen erschossen hätte? Man weiß es nicht, Munition war jedenfalls noch genug vorhanden…
„Kannst mich erschießen, aber sieh mir dabei in die Augen“, will Heise dann gesagt haben, und Steinhäuser habe geantwortet: „Nein, Herr Heise, für heute reicht’s“.
( Quelle Spiegel , 27.04.2002 )
Das Buch verarbeitet also die Folgen des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im Jahr 2002. Der Erzähler ist damals erst elf Jahre alt. Nach der schrecklichen Tat werden er und die anderen Kinder in einer sogenannten Ausweichschule, einem Ersatzort untergebracht, an dem sie ihre Schulzeit fortsetzen müssen. Zwanzig Jahre später, inzwischen erwachsen und selbst Schriftsteller, holen ihn die Erinnerungen an das Ereignis wieder ein. Eine Anfrage aus der Theaterszene wird zum Auslöser, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen…
Im Mittelpunkt steht nicht Robert Steinhäusers Tat, sondern das „Danach“. Das Buch fragt, wie ein Mensch weiterlebt, wenn er eine solche Katastrophe zwar überlebt, aber nicht direkt gesehen hat. Die Handlung ist geprägt vom langen Schweigen, von Fragen, die nicht verstummen – etwa, ob man überhaupt das Recht hat, über erlebtes Leid eigentlich zu schreiben. Diese Unsicherheit und das Suchen nach Erklärungen und Erlaubnis machen das Buch sehr authentisch.
Kaleb Erdmann erzählt seine Geschichte aus drei Perspektiven. Als Elfjähriger zur Zeit der Tat, als Erwachsener mit Angststörungen und als Autor, der sich während des Schreibens neu mit dem Erlebten konfrontiert sieht. Die Vergangenheit lässt sich nicht einfach abschütteln, sondern bleibt spürbar. Dieses Erzählen aus wechselnden Perspektiven gibt dem Roman eine besondere Tiefe und macht die Darstellung glaubwürdig und greifbar.
„Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann ist ein Roman, der auf sehr persönliche Weise vom Umgang mit einem traumatischen Erlebnis erzählt – ohne reißerisch zu sein und ohne große Worte zu machen. Allerdings hat er mich nicht so berührt, wie ich erhofft hatte! Der Erzähler der Geschichte, in dem Fall eben auch Kaleb Erdmann, bleibt mir fremd, irgendwie distanziert. Ich fühlte mich beim Lesen unwohl und bekam keinen richtigen Draht zu ihm. Woran das genau liegt, kann ich gar nicht sagen, denn vieles fand ich richtig gut! Vielleicht lag es daran, dass ich mich oft gefragt habe: „Würde ein 11-Jähriger das so sehen? Hat er sich solche Gedanken gemacht? Wie gut kennt ein 5.-Klässler die Oberstufenschüler?“ Da fand ich es schon sehr gut, dass Kaleb Erdmann eingeräumt hat, bei einigem nicht mehr sicher zu sein, ob er das als Kind so gesehen hat, oder ihm sein erwachsenes ICH ihm dies so vermittelt hat…
Aber auch die Passagen, wo es um die Arbeit seiner Freundin ging, die eine Vernissage der etwas anderen Art vorbereitet hat – ich sag nur Schweinegedärm im Kühlschrank! -, fand ich eher befremdlich und unnötig… 🙁
Kaleb Erdmann hat aber dennoch eine gute Sprache gefunden, sogar für die mich ekelnden Passagen. Klar und fast plakativ erzählt er vom Umgang mit seiner Trauer und Angst. Es geht ihm nicht darum, das Geschehene zu erklären oder abzuschließen, sondern die ständigen Fragen und Unsicherheiten auszuhalten und sichtbar zu machen.
„Die Ausweichschule“ ist ein Roman über ein lebenslanges Ringen mit Erinnerung, über Schuld und das Recht zu erzählen und wie schwer es ist, nach einem Trauma in den Alltag zurückzufinden.
Von mir bekommt „Die Ausweichschule“
3 – 4 / 5
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Über den Autor:
„Kaleb Erdmann, Jahrgang 1991, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, sowie Soziologie und Politische Theorie in München und Frankfurt am Main. Er war Finalist des open mike, wurde für sein Theaterstück Unten für den Retzhofer Dramapreis nominiert und war als Autor und Redakteur Teil verschiedener Fernseh- und Unterhaltungsformate. Sein erster Roman wir sind pioniere wurde mit dem Debütpreis der LitCologne ausgezeichnet. Zuletzt schrieb er für das Berliner Ensemble das Stück Always Carrey On. Kaleb Erdmann lebt und arbeitet in Düsseldorf.“
( Quelle Ullstein.de )
„Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann
Ein autofiktionaler Roman erschienen bei park x Ullstein am 31.07.2025
ISBN 978-3988160225
304 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
Auch als Ebook und Hörbuch erhältlich

